Ein Vortrag von John S. Rolland zu Liebe, Partnerschaft und chronischen Muskelerkrankungen

„Ein Gast, den niemand eingeladen hat, der aber auch nicht wieder geht“ – Mit diesem Bild, das vielen von uns bekannt vorkommt, beschreibt John S. Rolland was es bedeutet, mit einer chronischen Erkrankung zu leben. „Dieser Gast sitzt nicht nur bei der erkrankten Person, sondern bei der ganzen Familie mit am Tisch“. Welche Auswirkungen solche ungebetenen Gäste auf das Familienleben und auf die Partnerschaft haben, damit beschäftigt sich der US-amerikanische Neurologe und Psychiater schon sein gesamtes Berufsleben lang. Gemeinsam mit seiner Frau Froma Walsh gründete er vor 25 Jahren das „Chicago Centre for Family Health“ (CCFH), eine für Paare und Familien die mit chronischen Krankheiten und Behinderungen leben einzigartige interdisziplinäre Einrichtung. Zu ihrem international anerkannten Angebot gehören neben der Beratung Betroffener auch Weiterbildungen für Profis aus dem Gesundheitsbereich ebenso wie für Selbsthilfegruppen.

Auf Initiative der Diagnosegruppe Myositis konnte die DGM in Kooperation mit der Katholischen Fachhochschule für Sozialwesen John S. Rolland im vergangen November nach Berlin einladen. In seinem Vortrag berichtete er vor allem von den Erfahrungen, die sein Team aus der Arbeit mit Paaren gewonnen hat, die von Multipler Sklerose betroffen sind. Gemeinsam mit dem Chicagoer MS-Verband entwickelte das CCFH das Projekt „Resilient Couples“, auf Deutsch etwa „Widerstandsfähige Paare“. Es geht davon aus, dass Paare auch mit dem ungebetenen Gast chronische neuromuskuläre Erkrankung eine glückliche Beziehung führen können – dazu müssen sie aber einiges lernen und einüben, was sie vielleicht vorher nicht brauchten oder kannten.

 

von links: John S. Rolland, Sigrun Matthiesen und Martin Taylor (Diagnosegruppe Myositis), Arpad von Moers ( Vorstand DGM) Birgit Behrisch (Katholische Hochschule für Sozialwesen, Berlin) copyright: privat
von links: John S. Rolland, Sigrun Matthiesen und Martin Taylor (Diagnosegruppe Myositis), Arpad von Moers (Vorstand DGM) Birgit Behrisch (Katholische Hochschule für Sozialwesen, Berlin) Copyright: privat

Reden und Raum schaffen

Das Wichtigste, so John S. Rolland, sei „die Krankheit wirklich als gemeinsame Herausforderung zu begreifen“. Was sich bei dem oder der Erkrankten an Schmerzen und körperlichen Einschränkungen bemerkbar mache, habe der oder die Gesunde dafür in einer Zunahme von Hilfs- und Pflegetätigkeiten zu leisten. Anstatt sich also in „den armen Patienten“ und „den überlasteten Angehörigen“ auseinanderdividieren zu lassen, und sich dabei emotional immer weiter voneinander zu entfernen sollte das Ziel sein, sich als Team mit unterschiedlichen Rollen zu verstehen. Um das schaffen zu können, ist es entscheidend, dass beide Partner sich offen über ihre jeweils unterschiedlichen Erfahrungen mit der gemeinsamen Herausforderung austauschen: Wie fühlen sich die im Krankheitsverlauf häufig zunehmenden körperlichen Einschränkungen für beide an? Welche Verlustängste löst die Krankheit aus? Was ist angesichts dieser Bedrohungen für die beiden Individuen und für das Paar wirklich wichtig im gemeinsamen Leben? Wie empfinden und gestaltet man seine Rolle als Patient beziehungsweise als pflegender und helfender Angehöriger? Eine derart offene Kommunikation sein für die allermeisten Paare erst mal ungewohnt und schwierig, so John Rollands, „doch wenn man sie eingeübt hat, erspart man sich viele unnötige Missverständnisse und Verletzungen die sonst oft zur gegenseitigen Entfremdung führen“. So wichtig er Reden findet, so wichtig sei es aber auch „den Dauergast in seine Schranken zu weisen“, also immer wieder dafür zu sorgen, dass die Krankheit nicht die gesamte Beziehung dominiert. Dabei könne es ganz praktisch gut sein, Orte und Zeiten zu bestimmen, wo nicht die Krankheit, sondern andere Dinge des Lebens Thema sind. „Das hilft, zu verhindern dass aus einer Liebesbeziehung eine „Pfleger-Patient-Beziehung“ wird.

Von anderen Paaren lernen

Auch wenn diese Experten-Ratschläge ziemlich handfest und lebenspraktisch sind, ist es im Alltag oft schwer sie zu beherzigen, das haben John S. Rolland und sein Team in ihrer langjährigen Arbeit am CCFH immer wieder erfahren. Deshalb entwickelten sie für das Projekt mit dem MS-Verband in Chicago ein Rahmenprogramm für vier aufeinander-aufbauende Workshops, in denen betroffene Paare gemeinsam das Rüstzeug für ein glückliches Leben mit ungebetenem Gast einüben. Die ersten Gruppensitzungen wurden noch von John Rolland oder Mitarbeitern des CCFH angeleitet, „doch nach und nach übernahmen dann erfahrene Paare die Gründung von neuen Gruppen. Viele treffen sich auch über die vier Workshops hinaus weiter um sich gegenseitig zu unterstützen. Dabei sei es gar nicht so wichtig, ob alle jetzt genau die gleiche Krankheit haben, sondern eher, dass die Gruppen in Bezug aufs Alter und die Beziehungsdauer annähernd ähnlich zusammengesetzt waren.

Ein Konzept für Paare, dass DGM Vorstandsmitglied Arpad von Moers ebenso interessant fand wie die bei der Veranstaltung anwesenden Dozentinnen der Katholischen Hochschule. Gemeinsam mit ihnen überlegen wir von der Diagnosegruppe Myositis wird nun, ob und wie sich ein ähnliches Hilfs-Angebot für Paare auch in Deutschland aufbauen ließe. Wir werden Sie über die nächsten Schritte auf dem Laufenden halten und freuen uns schon jetzt über Ideen und Anregungen.

(Sigrun Matthiesen)